Geschichte Krieg

„Israel wurde nicht gegründet, damit sich Juden in Schutzräumen verstecken müssen“. Wie der Krieg das friedliche Leben der Israelis auf den Kopf gestellt hat

Seit drei Monaten herrscht in Israel ein Krieg ohne­glei­chen. Seit der Gründung des Staates Israel hat es noch nie so vie­le zivi­le Opfer gege­ben – mehr als 1200 Tote, über 250 Geiseln und Dutzende von Vermissten. Zum ers­ten Mal sind 135.000 Israelis Flüchtlinge in ihrem eige­nen Land gewor­den. Zum ers­ten Mal hat die Armee sowie all die ein­be­ru­fe­nen Reservisten eine Zahl von 500.000 über­schrit­ten. Zum ers­ten Mal haben sich Tausende Angehörige ortho­do­xer Religionsgemeinschaften frei­wil­lig zur Armee gemel­det, die vor allem bis­her den Militärdienst weit­ge­hend ver­mie­den hatten.

Der Krieg ist im gan­zen Land zu spü­ren, nicht nur in Form regel­mä­ßi­ger Angriffe, son­dern auch im Alltag: An den Universitäten herrscht Stillstand (Studierende und Professoren*innen sind an der Front), Arzttermine wer­den mit einer Wartezeit von etwa einem hal­ben Jahr ver­ge­ben (Ärzt*innen wer­den an der Front drin­gen­der gebraucht), in eini­gen Behörden herrscht kein Betrieb (die Angestellten sind im Krieg) und für Israel unver­zicht­ba­re klei­ne­re Unternehmen, haben ihre Kundschaft ver­lo­ren (die Menschen haben ihre Ausgaben auf ein Minimum reduziert).

Universitäten und Schulen. „Ein Drittel der Student*innen gingen in den Krieg.“

In Israel gibt es kein fest­ge­leg­tes Datum für einen Semesterbeginn. Normalerweise fängt es in der Mitte des Oktobers an, nach einer Reihe lan­ger Feiertage, von denen der letz­te Simchat Tora ist. Im Jahr 2023 fiel die­ser Feiertag auf den 7. Oktober. Nachdem die Nachrichtensender am sel­bi­gen Tag über die Geschehnisse an der Grenze zum Gazastreifen berich­te­ten, wur­de Zehntausenden (ange­hen­den) Student*innen bewusst, dass sie anstel­le von Vorlesungssälen Militärstützpunkte erwar­te­ten. Die meis­ten jun­gen Israelis begin­nen erst mit ihrem Studium, nach­dem sie ihren Militärdienst abge­leis­tet haben – so bil­den sie den Großteil der Reservisten, die im Falle von Ausschreitungen an die Front geschickt werden.

„An unse­rer Universität ist ein Drittel der Student*innen in den Krieg gegan­gen“, sagt Elena Bunina, Professorin an der Bar-Ilan-Universität. - Die ansäs­si­gen Studierenden, mit denen ich in Kontakt ste­he, sind in einer sehr schlech­ten emo­tio­na­len Verfassung - wie wir alle hier. Jeder kann von Getöteten im Bekanntenkreis berich­ten und von zahl­rei­chen Freunden, die im Kriegsdienst sind. In regel­mä­ßi­gen Abständen errei­chen uns Briefe über den Tod der Kindern der Professor*innen unse­rer Universität. Es ist schmerz­haft und geht uns sehr, sehr nahe.“

Elena Bunina, Professorin an der Bar-Ilan-Universität

„Das Technion ist men­schen­leer“, sagt Yakov Krasik, Leiter des Labors für Plasmaphysik. – Es gibt kaum noch jun­ge Leute in unse­rem Labor: drei sind an der Front, und eine jun­ge Frau ist in einem der­art schlech­ten psy­chi­schen Zustand, dass sie ihre Arbeit nicht fort­set­zen kann. Während der Pandemie vor drei Jahren erhiel­ten wir auch regel­mä­ßig Meldungen über die Universität über ver­stor­be­ne Kollegen, doch jetzt ist es noch viel schwe­rer zu ertra­gen: denn wir beer­di­gen nun die jun­gen Menschen, nicht mehr die Alten“.

Yakov Krasik, Professor am Technion

Im ers­ten Monat des Krieges wur­den Schulen und Kindergärten geschlos­sen, doch es wur­de schnell klar, dass es unmög­lich sein wür­de, die Kinder dau­er­haft zu Hause zu las­sen – Eltern kehr­ten zur ihrer Arbeit zurück, Kinder gewöhn­ten sich lang­sam an die Laute der Sirenen. Elena Buninas Sohn ist im Schul-, ihre Tochter im Kindergartenalter: „Meine Kinder kom­men mit den Bombardierungen noch rela­tiv gut zurecht  – ver­gli­chen mit ande­ren Kindern unse­res Umfelds. Tel Aviv wird oft mit Raketen bombardiert. 

In den ers­ten Tagen waren die Kinder sehr ver­ängs­tigt, aber mitt­ler­wei­le haben sie sich dar­an gewöhnt, gehen dis­zi­pli­niert in den Schutzraum, mei­ne Tochter kann sogar schla­fend dort­hin gebracht werden. 

Ehrlich gesagt, für mei­nen Sohn, der ja noch zur Schule geht, bleibt der Bildungsprozess sehr unre­gel­mä­ßig: eini­ge sei­ner Lehrer kämp­fen im Krieg, so hat er wöchent­lich gera­de mal fünf Unterrichtsstunden. Das Ganze gestal­tet sich natür­lich als logis­tisch schwie­rig. Allerdings sind unse­re Probleme bei wei­tem nicht so schlimm, wie bei ande­ren Familien, die mit ihren Kindern auf­grund des Krieges die Schule ver­las­sen haben und in ande­re Städte umzie­hen muss­ten. Da will ich gar nicht von dem Leid der ukrai­ni­schen Familien anfan­gen, die mit ihren Kindern von einem Krieg in einen ande­ren gera­ten sind“. 

In jeder Region haben Schulen einen eige­nen Rhythmus gefun­den: man­cher­orts fin­det Schulunterricht regel­mä­ßig statt, andern­orts wird in gesi­cher­ten Räumen unter­rich­tet, ansons­ten wur­de der Unterricht ins Internet ver­la­gert. Israel lei­det bereits seit län­ge­rem unter einem gra­vie­ren­den Lehrermangel und zähl­te schon vor dem Krieg zu den Ländern mit einer hohen Schüleranzahl in einer Klasse – bis zu 40 Personen. Nun sind auf­grund der Mobilisierung von Lehrkräften die bis dato über­füll­ten Klassenräume noch zusätz­lich überlaufen.

Flüchtlinge. „Evakuieren Sie alle, die keinen Zugang zu einem Schutzraum haben“

In den ers­ten Wochen des Krieges konn­te die Regierung kei­ne Entscheidung dar­über fäl­len, wie den Zivilisten*innen inner­halb der Kampfzone gehol­fen wer­den soll. Deshalb muss­ten die Bewohner*innen aus die­sen gefähr­li­chen Gebieten von frei­wil­li­gen Helfer*innen eva­ku­iert werden.

„Eine Evakuierung wäre wirt­schaft­lich kein Problem. Der Staat hat das Geld, um die Menschen aus der Gefahrenzone zu brin­gen. Es bedarf einer raschen poli­ti­schen Entscheidung“, for­der­te der Bürgermeister von Sderot (Stadt an der Grenze zum Gazastreifen) beim Knesset (Parlament Israels). Allerdings leg­te der Finanzminister sein Veto gegen die Bereitstellung von Geldern zur Evakuierung von Bewohner*innen, aus den fast zer­stör­ten Städten, ein. Die Städte befän­den sich recht­lich nicht mehr in der Zone zur Grenze des Gazastreifens.

Die Angelegenheit hat­te sich erst geklärt, nach­dem sich der Bürgermeister von Aschkelon (einer ande­ren Stadt in der Nähe des Gazastreifens) im Knesset wütend an den Finanzminister rich­te­te: „Seit sie­ben Jahren schreie ich laut: ‚Kibennimat!‘ (ein rus­si­sches Schimpfwort auf Hebräisch). Definieren Sie Aschkelon als Teil der Grenzzone des Gazastreifes! Evakuieren Sie alle, die kei­nen Zugang zu einem Schutzraum haben. Ich spre­che vor allem von denen, die weder Geld für einen Schutzraum, noch für eine Evakuierung haben. Welche Antworten wol­len Sie die­se Menschen geben, außer zu beten, dass sie nicht sterben? …

Ashkelon ist zu einer Geisterstadt gewor­den, Geschäfte und Unternehmen sind geschlos­sen, Kriegsschäden belau­fen sich auf Hunderte Millionen Schekel. Das Verteidigungsministerium gab grü­nes Licht für die Überweisung von Mitteln, aber das Finanzministerium leg­te Veto ein. Also erklä­ren Sie mir, was statt­des­sen zu tun ist, wenn zur Evakuierung einer Stadt auf 300 Millionen Schekel ver­zich­tet wer­den muss?“.

Letztendlich wur­de die Evakuierung ange­ord­net: mehr als 135.000 Israelis aus dem Norden und Süden wur­den aus den ange­grif­fe­nen Gebieten eva­ku­iert. Die meis­ten von ihnen wur­den in Hotels unter­ge­bracht, die ohne­hin leer ste­hen – es gibt heut­zu­ta­ge nur weni­ge, die in Israel Urlaub machen möchten.

Die Hotels wer­den vom Staat bezahlt – eine Unterkunft für Flüchtlinge ist kos­ten­los. Die meis­ten Hotels sind jedoch nicht für einen län­ge­ren Aufenthalt von Familien mit Kindern geeig­net, da es in der Umgebung weder Schulen noch Kindergärten gibt. Und die Einrichtungen in unmit­tel­ba­rer Nähe sind nicht in der Lage, so vie­le neue Schüler*innen und Kinder auf­zu­neh­men. Stattdessen ver­su­chen vie­le Flüchtlinge bei Verwandten oder Freunden unter­zu­kom­men, wo sie Hilfe erhal­ten kön­nen und wo die Kinder vor­über­ge­hend in einen Kindergarten oder eine Schule auf­ge­nom­men wer­den kön­nen. Diese tem­po­rä­re Lage lässt vie­les unbe­ant­wor­tet. Wie wird es mit die­sen Menschen wei­ter­ge­hen? Die Regierung hat für die Umsiedler bis­her kei­ne Lösungen vorgeschlagen.

Geschäft. „Wir sind auf uns allein gestellt mit dem Krieg.“

Pawel Popeljuchin ist 44 Jahre alt, seit 18 Jahren arbei­tet er im israe­li­schen Büro eines ame­ri­ka­ni­schen IT-Unternehmens – er tritt alle sechs Monate zwei bis drei Wochen zum Miluim an (soge­nann­ter Reservedienst). Er kehr­te im September von sei­nem letz­ten Miluim zurück und befand sich zwei Wochen nach Kriegsbeginn wie­der in der Armee. Von 300 Mitarbeitern sei­nes Unternehmens befin­den sich der­zeit etwa 15 im Kampfeinsatz. „In unse­rer Firma gibt es kei­ne Probleme mit der Bezahlung von Reservisten. Unser Gehalt wird voll­stän­dig gezahlt, da die Hightech-Branche einen beson­de­ren Wert hat. In Unternehmen mei­ner Mitkollegen*innen bezah­len Arbeitgeber Reservisten nur den Mindestlohn. Sie haben ein­fach nicht genug Geld drei Monate lang Gehalt zu über­wei­sen, an die­je­ni­gen die nicht arbei­ten. Davon dre­hen die Leute durch: nicht nur, dass sie seit drei Monaten nicht zu Hause sind, außer an weni­gen Wochenenden, alle zwei bis drei Wochen, sie kön­nen nicht mal mehr ihre Familien ver­sor­gen. Die Nerven der Angehörigen lie­gen blank, Familien fan­gen an auseinanderzubrechen.“ 

Pavel Popelyukhin ist im zivi­len Leben IT-Spezialist und im mili­tä­ri­schen Leben LKW-Fahrer

Normalerweise steigt die Anzahl an Unternehmen in Israel, aber in die­sem Jahr wird es um 20.000 schrump­fen. In den ers­ten Wochen des Krieges waren in Einkaufszentren fast alle Cafés und Geschäfte geschlos­sen. Einige haben bis heu­te nicht mehr geöffnet.

Ekaterina Biryukova und ihr Ehemann Alexey arbei­ten im Bereich Landscape Design – sie ver­schö­nern Grundstücke, Balkone, etc.. Nach Kriegsbeginn haben sie kei­ne neu­en Kunden mehr. Es blei­ben nur die alten Abonnenten, die für die Pflege bereits gestal­te­ter Flächen regel­mä­ßig zah­len. Mit die­sem Einkommen kann die Familie jedoch nicht ein­mal die Hypothek bezah­len, geschwei­ge denn den übli­chen Lebensstandard aufrechterhalten:„Jetzt ste­he ich vor der Wahl: zum Friseur gehen oder 200 Schekel in die Hypothek ein­zah­len. In der glei­chen Situation befin­den sich mei­ne Freunde, die Künstler*innen und Designer*innen sind. Allerdings unter­stüt­zen uns unse­re Kunden sehr: zum Beispiel haben wir Angst, in die zen­tra­len Regionen des Landes zu rei­sen – in Gebiete, die oft beschos­sen wer­den. Aber die Kunden aus die­sen Gebieten zah­len trotz­dem für das Abonnement. All die Menschen ver­su­chen sich gegen­sei­tig zu helfen.“

Um Kolleg*innen zu hel­fen ihre Verluste zu mini­mie­ren, hat der bekann­te israe­li­sche Inhaber des Unternehmens Yoffi Arkadiy Mayofis die Kampagne „Unterstütze Deine Eigenen“ ins Leben geru­fen: Bei die­ser Aktion ver­öf­fent­lich­te er kos­ten­los Werbung für ver­schie­de­ne Unternehmen auf sei­nen Konten. Dies ver­half Vielen, in den ers­ten Monaten des Krieges nicht bank­rott zu gehen.

Arkady Mayofis unter­stütz­te klei­ne Unternehmen in schwie­ri­gen Zeiten mit Werbung

Bis Oktober 2023 war Marina Badashina als Nagelmeisterin in Haifa der­art bekannt, dass sie kei­ne Neukunden mehr anneh­men konn­te. Man muss­te sich einen Termin bei ihr Monate im Voraus sichern. Doch bereits im ers­ten Monat des Krieges ver­lor sie die Hälfte ihrer Kunden: „Zehntausende Menschen haben ihre Jobs ver­lo­ren oder sind in unbe­zahl­ten Urlaub gegan­gen. Maniküre ist kei­ne Sache der Notwendigkeit, wie Essen oder Medizin. Wir arbei­ten für die Schönheit und Freude im Leben. Aber von Freude ist nichts geblie­ben, statt­des­sen blei­ben Kindergärten und Wohnungen, die bezahlt wer­den müssen“.

Marina arbei­tet ehren­amt­lich in einem Krankenhaus in Kinderonkologie-Abteilung „Rambam“ und bie­tet gleich­zei­tig kos­ten­lo­se medi­zi­ni­schen Pediküre für Soldaten an (Probleme wie Verletzungen, Schwielen, ein­ge­wach­se­ne Zehennägel, Pilzinfektionen). Das alles bringt ihr kein Geld ein. „Meine Kollegen ste­cken in einer ähn­li­chen Situation. Neben mir arbei­tet ein Meister, der seit 40 Jahren sei­ne Stammkunden pflegt. Ich habe ihn noch nie so lan­ge untä­tig sit­zen sehen. Gegenüber mei­nes Salons befin­det sich das Studio einer der bes­ten Haarfärberinnen Haifas. All ihre Kunden sind ver­schwun­den. Sie ver­such­te sie mit Rabatten zu locken, mit vie­len Reels und Werbung in sozia­len Netzwerken. Aber das ist alles sinn­los. Wenn Krieg ist, geht man sich nicht die Haare fär­ben. Es ist unwich­tig. Meine Bekannten, die hier Kleidung aus Italien und der Türkei ver­kau­fen, befin­den sich in einer noch schwie­ri­ge­ren Lage. Die gesam­te Logistik ist lahm­ge­legt, sodass die Waren nicht nach Israel gelie­fern wer­den kön­nen. Und der Verkauf der ver­blie­be­nen Ware deckt nicht ein­mal die Mietkosten des Ladens, die seit Kriegsbeginn ent­stan­den sind. Deshalb schlie­ßen die meis­ten Geschäfte bereits nach zwei Monaten.“

Man geht davon aus, dass Israelis an Kriege gewöhnt sind. Doch Marina, die vor 13 Jahren aus Kiew (Kyiv) nach Israel kam, erzählt, dass sie eine solch fürch­ter­li­che Erfahrung zum ers­ten Mal gemacht hat: „Klar, wir erken­nen Flugzeuge, Sirenen, fal­len­de Raketen. Wir kön­nen am Klang unter­schei­den, was sich am Himmel abspielt. Dennoch, vor­her haben wir uns men­tal immer beschützt gefühlt. Wir wuss­ten, dass es einen Staat und einen Feind gibt – und das der Staat uns beschüt­zen wird. Und jetzt sit­ze ich hier und fra­ge mich: Wie kann ich selbst für Sicherheit sor­gen? Wir alle wis­sen, dass Terroristen in all die Regionen ein­ge­drun­gen sind und ich spü­re, dass sie im Land sind – ich ver­las­se mich auf nie­man­den mehr. Ich habe mei­ner Mutter und mir Pfefferspray gekauft. Weißen Pick-ups ver­su­che ich aus dem Weg zu gehen – in die­sen Autos sind die Terroristen aus Gaza ein­ge­drun­gen. Auch in mei­nem Büro habe ich eini­ge Sicherheitsvorkehrungen getrof­fen. Ich bin bereit, mich jeder­zeit zu ver­tei­di­gen. Wir sind auf uns allein gestellt mit dem Krieg. Und nie­mand wird Israel beschüt­zen, nur wir wer­den es tun.“

Laut dem Nationalen Institut für Gesundheitspolitik ist bei den Israelis seit dem 7. Oktober eine Zunahme der Angststörungen von 50 % zu ver­zeich­nen, Fälle von aku­ter Belastung um 900 %.

Aber nicht alle blei­ben bei dem gan­zen Stress untä­tig. Ein Teil der Veteranen-Reservisten, der nicht mit den neu­en Panzern kämp­fen kann, hat alte aus­ge­mus­ter­te Panzer restau­riert. Die Veteranen grün­de­ten ihre eige­ne Einheit mit dem Namen „Of ha-Khol“ (Phoenix) und zogen an die Front.

„Nach dem 7. Oktober geschah ein Wunder“, meint Pavel Popelyukhin – sei­ne Spezialisierung inner­halb der Armee ist der Transport von schwe­ren Gerät. „Juden, Beduinen, Drusen, israe­li­sche Araber, Muslime und Christen ver­sam­mel­ten sich und ver­tei­dig­ten sich gemein­sam, noch bevor Armee und Regierung etwas bemerk­ten. Die Menschen um mich her­um lie­ßen alles lie­gen, um an der Evakuierung und den Gefechten mit­zu­wir­ken. Für uns war es erstaun­lich, wie vie­le Israelis, die das Land lan­ge ver­las­sen hat­ten, zurück­ge­kehrt sind. Einige gin­gen unmit­tel­bar an die Front. Die Tragödie (am 7. Oktober) ein­te das gan­ze Land und ver­än­der­te unse­re Sichtweise auf das Leben hier in Israel. Wir die­nen schließ­lich für unser Land, und kön­nen nicht nach­voll­zie­hen, wie der 7. Oktober über­haupt mög­lich wur­de, wie kam es dazu? … Israel ist von sich selbst überrascht.“

Freiwillige. „Wir werden den Krieg auf jeden Fall gewinnen.“

Erhebliche Kriegsschäden haben länd­li­che Gebiete im Norden und Süden Israels davon­ge­tra­gen: ins­be­son­de­re, wo sich Farmen befin­den, auf denen Tiere gezüch­tet wer­den oder Obst und Gemüse ange­baut wird. Vorher gab es dort vie­le Arbeiter aus Palästina, Thailand und wei­te­ren Ländern. Palästinenser wur­den aus Israel aus­ge­wie­sen, vie­le Thailänder ver­lie­ßen das Land aus eige­nem Antrieb. Daher baten die Bauern in den ers­ten Wochen des Krieges um Hilfe, sie wand­ten sich an Freiwillige aus dem zen­tra­len Teil des Landes. Seit drei Monaten rei­sen nun Ingenieure, Lehrkräfte, Musiker*innen, Fahrer*innen, Rentner*innen, pen­sio­nier­te Generäle und Minister am Schabbat an – anstatt sich aus­zu­ru­hen, fah­ren sie in die süd­li­chen und nörd­li­chen Regionen um den Bauern zu helfen.

Der berühm­te ame­ri­ka­ni­sche Biologe Eugene Koonin kommt regel­mä­ßig nach Israel, um sei­ne Mutter zu besu­chen. Für alle Fachleute ist das ein wich­ti­ges Ereignis – er wird zu Seminaren ein­ge­la­den, man ist gespannt auf sei­ne Vorlesungen.

Der füh­ren­de Forscher am National Center for Biotechnology Information der National Library of Medicine der US National Institutes of Health Evgeniy Kunin (rechts) hilft israe­li­schen Bauern

Diesmal ver­sam­mel­te er sich nach dem Vortrag am Samstag mit ande­ren Universitätsmitarbeitern, um Tomaten zu pflü­cken: „Auf den ers­ten Blick erin­nert es an die Kartoffelernten in der UdSSR. Doch damals wur­de es durch das das mise­ra­ble sowje­ti­sche Management in der Landwirtschaft ver­ur­sacht, in Israel ist es nun eine frei­wil­li­ge zivil­ge­sell­schaft­li­che Geste mit einer abso­lu­ten Notwendigkeit. Wenn die Ernte ver­lo­ren geht, haben die Menschen nun mal nichts mehr zu essen.“

Ebenfalls dort, in den Gewächshäusern, kann man regel­mä­ßig den ehe­ma­li­gen Verteidigungsminister Moshe Bogie Ya’alon antref­fen, aber auch Schauspieler*innen und vie­le wei­te­re berühm­te Persönlichkeiten Israels.

Neue und alte Rückkehrer über land­wirt­schaft­li­che Arbeit: Biologe Alexander Markov, Ingenieur Yan Rybak, Biologiestudent Fjodor Voitinsky, Biologin Alexandra Goryashko, Musiklehrerin Yana Yut

Die Logistik und die Beförderung von Menschen zu den jewei­li­gen Farmen über­nah­men Freiwilligenorganisationen, deren Rolle heut­zu­ta­ge über­aus wich­tig ist. 

Israel hat­te zuvor kei­ner­lei Erfahrung mit sofor­ti­ger Mobilisierung, ins­be­son­de­re mit einer solch gro­ßen Anzahl von Reservisten. Daher wur­den Soldaten inner­halb weni­ger Tage oft­mals von Freiwilligen mit Kleidung und Lebensmitteln beliefert.

Jan Rybak, Ingenieur eines Projektunternehmens, nahm sich sofort nach dem 7. Oktober Urlaub und star­te­te mit Lieferungen von Hilfsgütern an Soldat*innen. „Auf Anfrage habe ich alles Mögliche trans­por­tiert, ange­fan­gen mit T-Shirts und Unterhosen bis hin zur mili­tä­ri­schen Ausrüstung. Ich belie­fer­te mit Allem, was Verwandte per DHL aus dem Ausland an die Soldaten schi­cken woll­ten - Medikamente, Kleidung. Dann begann ich mit dem Freiwilligenzentrum zusam­men­zu­ar­bei­ten, das von der Partei ‚Unser Haus Israel‘ in Haifa gegrün­det wur­de. Dies ist die ein­zi­ge rus­si­sche Partei in Israel. Sie sam­meln Spenden und kau­fen ein, was Kampftruppen benötigen.“

Zuerst fuhr Jan nur in den Süden, aber nach einer Woche began­nen die Kämpfe auch im Norden an der Grenze zum Libanon. „Dort habe ich wirk­lich gespürt, wie nah die Front ist. Genau an die­sem Tag hat­te die ‚Hisbollah‘ auf bewohn­te Gebiete mit Panzerabwehrraketen geschos­sen, am Morgen wur­de eine Person getö­tet. Als ich ankam, woll­ten mich die Soldaten erst­mal nicht durch­las­sen. Sie berie­ten sich lan­ge, tele­fo­nier­ten, doch schließ­lich lie­ßen sich mich durch­fah­ren. Sie sag­ten: ‚Fahr, aber hal­te nir­gend­wo an‘. Ich fuhr zu dem Ort, an dem ich die mit­ge­brach­ten Lebensmittel an die Soldaten über­ge­ben soll­te, aber auch dort hieß es: ‚Bleib hier nicht ste­hen die­ser Ort wird von jenem Hügel aus beschos­sen‘. Als ich zurück­fah­ren woll­te, baten sie mich, einen Soldaten mit­zu­neh­men, dem Urlaub gewährt wur­de. Während ich auf ihn war­te­te, began­nen die Explosionen – alle eil­ten in den Schutzraum. Kurz gesagt, heu­te ist es beängs­ti­gen­der in den Norden zu fah­ren als in den Süden.“

Jan lebt seit 1991 in Israel und erin­nert sich an zahl­rei­che Konflikte mit Gaza, der Hamas und beim Zweiten Libanonkrieg. Auf die Frage, ob Freiwillige immer so stark in die Versorgung von Reservisten invol­viert waren, ant­wor­tet er ent­schie­den: „Nein. Aber es gab nie einen Krieg wie die­sen, nicht in mei­ner Erinnerung und über­haupt nicht in der Geschichte Israels seit dem Unabhängigkeitskrieg. Was unter­schei­det die­sen Krieg von allen vor­he­ri­gen? Der Jom-Kippur-Krieg gilt als einer der schlimms­ten Kriege in Israel, bei dem zwei­ein­halb­tau­send Israelis star­ben. Aber das waren Soldaten, es gab kaum zivi­le Verluste. Wir hat­ten nie eine Situation, in der mehr als 250 Menschen als Geiseln genom­men wur­den. Die genaue Anzahl ist bis heu­te unbe­kannt: es gibt Menschen, die ver­schwun­den sind, bei denen unklar ist, ob sie nun in Geiselhaft oder gestor­ben sind. Die Morde wur­den mit einer sol­chen Unmenschlichkeit began­gen, dass bis heu­te nicht alle gefun­de­nen Überreste iden­ti­fi­ziert sind. In die­ser Hinsicht war der Jom-Kippur-Krieg zwar für Israel schwer und trau­ma­tisch, aber nie­mand dach­te über die Existenz Israels nach. Der Krieg, der nun statt­fin­det, ist der zwei­te Krieg nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948, bei dem das Land auf dem Spiel steht: In Israel herrscht ein Krieg ums Überleben.

Wenn Israel die­sen Krieg ver­liert, wird dies für uns der Beginn eines schmerz­haf­ten Endes sein, das sich über zwei, drei, viel­leicht vier Jahrzehnte erstre­cken wird. Aber es wird genau den Anfang vom Ende bedeu­ten. Tatsache ist, dass die Araber schon lan­ge nicht mehr in Israel ein­fal­len wol­len. Sie wis­sen ganz genau: kei­ne ara­bi­sche Miliz, selbst nicht die Hisbollah, wäre in der Lage, Israel zu beset­zen. Sie ver­su­chen uns statt­des­sen zu scha­den und das Leben der Menschen uner­träg­lich zu machen. Sie rech­nen damit, dass der Israelis irgend­wann sagen: ‚Wie lan­ge wol­len wir das durch­ma­chen? Warum muss ich mir das antun? Das nimmt kein Ende. Ich möch­te, dass mei­ne Kinder in Frieden leben, ohne von Raketen bedroht zu wer­den.’ Seit 2005, dem voll­stän­di­gen Rückzug Israels aus dem Gazastreifen, ist eine gan­ze Generation unter stän­di­gem Raketenbeschuss im Süden auf­ge­wach­sen. Bei einem Beschuss blei­ben stets 20 Sekunden, um zum Schutzraum zu gelan­gen. Und genau dafür wur­de Israel doch geschaf­fen, oder? Israel wur­de nach dem Zweiten Weltkrieg zum Zufluchtsort: die Juden wür­den eine Heimat haben, in dem sich der Holocaust nie­mals wie­der­ho­len könn­te, nie­mand könn­te Juden unge­straft töten. Das, was wir in den letz­ten 20 Jahren in Israel erleb­ten, ent­spricht nicht dem, wofür die­ses Land geschaf­fen wur­de. Nicht dafür, dass sich Juden im eige­nen Land in Schutzräumen ver­ste­cken müs­sen. Jetzt hat sich die größ­te Tragödie seit dem Holocaust ereig­net. Daher ist die Reaktionskraft pro­por­tio­nal zur Schlagkraft: das Maß an Solidarität ist unver­gleich­lich mit allem, was mir in Erinnerung ist. Daher ist der Geist der Hilfsbereitschaft inzwi­schen allgegenwärtig.“

Freiwilliger Jan Rybak

„Den Krieg wer­den wir auf jeden Fall gewin­nen“, ver­spricht Arkadi Milman, der Leiter des Programms zur Erforschung Russlands am Institut für natio­na­le Sicherheit an der Universität in Tel Aviv. „Es ist unklar, wann es pas­siert. Wie man zu sagen pflegt: wie und wann ich einen Krieg begin­ne – weiß ich – wie und wann ich ihn been­de – weiß ich nicht. Dann beginnt der schreck­lichs­te Kampf, der Krieg stellt Israel vor die Frage: Sein oder Nichtsein? Seit dem 7. Oktober ist die Gesellschaft mehr als gespal­ten, es herrscht eine enor­me Unzufriedenheit bei den Menschen – die alle unter­schied­li­che Positionen ver­tre­ten, ob im Staatsapparat oder in der Armee. Wenn Israel über­le­ben will, muss es um sei­ne Zukunft kämp­fen. Entweder wer­den wir wie im Mittelalter leben, wie vie­le unse­rer Nachbarn oder wir ent­schei­den uns als Staat in der höchs­ten Liga zu sein. Eines kann ich gewiss bestä­ti­gen: ein Israel vor dem 7. Oktober und ein Israel nach dem 7. Oktober wer­den zwei ver­schie­de­ne Länder sein.“

Olga Orlova, Chefredakteurin, T-invariant

  9.01.2024