Geschichte Krieg

„Israel wurde nicht gegründet, damit sich Juden in Schutzräumen verstecken müssen“. Wie der Krieg das friedliche Leben der Israelis auf den Kopf gestellt hat

Seit drei Monaten herrscht in Israel ein Krieg ohnegleichen. Seit der Gründung des Staates Israel hat es noch nie so viele zivile Opfer gegeben – mehr als 1200 Tote, über 250 Geiseln und Dutzende von Vermissten. Zum ersten Mal sind 135.000 Israelis Flüchtlinge in ihrem eigenen Land geworden. Zum ersten Mal hat die Armee sowie all die einberufenen Reservisten eine Zahl von 500.000 überschritten. Zum ersten Mal haben sich Tausende Angehörige orthodoxer Religionsgemeinschaften freiwillig zur Armee gemeldet, die vor allem bisher den Militärdienst weitgehend vermieden hatten.

Der Krieg ist im ganzen Land zu spüren, nicht nur in Form regelmäßiger Angriffe, sondern auch im Alltag: An den Universitäten herrscht Stillstand (Studierende und Professoren*innen sind an der Front), Arzttermine werden mit einer Wartezeit von etwa einem halben Jahr vergeben (Ärzt*innen werden an der Front dringender gebraucht), in einigen Behörden herrscht kein Betrieb (die Angestellten sind im Krieg) und für Israel unverzichtbare kleinere Unternehmen, haben ihre Kundschaft verloren (die Menschen haben ihre Ausgaben auf ein Minimum reduziert).

Universitäten und Schulen. „Ein Drittel der Student*innen gingen in den Krieg.“

In Israel gibt es kein festgelegtes Datum für einen Semesterbeginn. Normalerweise fängt es in der Mitte des Oktobers an, nach einer Reihe langer Feiertage, von denen der letzte Simchat Tora ist. Im Jahr 2023 fiel dieser Feiertag auf den 7. Oktober. Nachdem die Nachrichtensender am selbigen Tag über die Geschehnisse an der Grenze zum Gazastreifen berichteten, wurde Zehntausenden (angehenden) Student*innen bewusst, dass sie anstelle von Vorlesungssälen Militärstützpunkte erwarteten. Die meisten jungen Israelis beginnen erst mit ihrem Studium, nachdem sie ihren Militärdienst abgeleistet haben – so bilden sie den Großteil der Reservisten, die im Falle von Ausschreitungen an die Front geschickt werden.

„An unserer Universität ist ein Drittel der Student*innen in den Krieg gegangen“, sagt Elena Bunina, Professorin an der Bar-Ilan-Universität. – Die ansässigen Studierenden, mit denen ich in Kontakt stehe, sind in einer sehr schlechten emotionalen Verfassung – wie wir alle hier. Jeder kann von Getöteten im Bekanntenkreis berichten und von zahlreichen Freunden, die im Kriegsdienst sind. In regelmäßigen Abständen erreichen uns Briefe über den Tod der Kindern der Professor*innen unserer Universität. Es ist schmerzhaft und geht uns sehr, sehr nahe.“

Elena Bunina, Professorin an der Bar-Ilan-Universität

„Das Technion ist menschenleer“, sagt Yakov Krasik, Leiter des Labors für Plasmaphysik. – Es gibt kaum noch junge Leute in unserem Labor: drei sind an der Front, und eine junge Frau ist in einem derart schlechten psychischen Zustand, dass sie ihre Arbeit nicht fortsetzen kann. Während der Pandemie vor drei Jahren erhielten wir auch regelmäßig Meldungen über die Universität über verstorbene Kollegen, doch jetzt ist es noch viel schwerer zu ertragen: denn wir beerdigen nun die jungen Menschen, nicht mehr die Alten“.

Yakov Krasik, Professor am Technion

Im ersten Monat des Krieges wurden Schulen und Kindergärten geschlossen, doch es wurde schnell klar, dass es unmöglich sein würde, die Kinder dauerhaft zu Hause zu lassen – Eltern kehrten zur ihrer Arbeit zurück, Kinder gewöhnten sich langsam an die Laute der Sirenen. Elena Buninas Sohn ist im Schul-, ihre Tochter im Kindergartenalter: „Meine Kinder kommen mit den Bombardierungen noch relativ gut zurecht  – verglichen mit anderen Kindern unseres Umfelds. Tel Aviv wird oft mit Raketen bombardiert. 

In den ersten Tagen waren die Kinder sehr verängstigt, aber mittlerweile haben sie sich daran gewöhnt, gehen diszipliniert in den Schutzraum, meine Tochter kann sogar schlafend dorthin gebracht werden. 

Ehrlich gesagt, für meinen Sohn, der ja noch zur Schule geht, bleibt der Bildungsprozess sehr unregelmäßig: einige seiner Lehrer kämpfen im Krieg, so hat er wöchentlich gerade mal fünf Unterrichtsstunden. Das Ganze gestaltet sich natürlich als logistisch schwierig. Allerdings sind unsere Probleme bei weitem nicht so schlimm, wie bei anderen Familien, die mit ihren Kindern aufgrund des Krieges die Schule verlassen haben und in andere Städte umziehen mussten. Da will ich gar nicht von dem Leid der ukrainischen Familien anfangen, die mit ihren Kindern von einem Krieg in einen anderen geraten sind“. 

In jeder Region haben Schulen einen eigenen Rhythmus gefunden: mancherorts findet Schulunterricht regelmäßig statt, andernorts wird in gesicherten Räumen unterrichtet, ansonsten wurde der Unterricht ins Internet verlagert. Israel leidet bereits seit längerem unter einem gravierenden Lehrermangel und zählte schon vor dem Krieg zu den Ländern mit einer hohen Schüleranzahl in einer Klasse – bis zu 40 Personen. Nun sind aufgrund der Mobilisierung von Lehrkräften die bis dato überfüllten Klassenräume noch zusätzlich überlaufen.

Flüchtlinge. „Evakuieren Sie alle, die keinen Zugang zu einem Schutzraum haben“

In den ersten Wochen des Krieges konnte die Regierung keine Entscheidung darüber fällen, wie den Zivilisten*innen innerhalb der Kampfzone geholfen werden soll. Deshalb mussten die Bewohner*innen aus diesen gefährlichen Gebieten von freiwilligen Helfer*innen evakuiert werden.

„Eine Evakuierung wäre wirtschaftlich kein Problem. Der Staat hat das Geld, um die Menschen aus der Gefahrenzone zu bringen. Es bedarf einer raschen politischen Entscheidung“, forderte der Bürgermeister von Sderot (Stadt an der Grenze zum Gazastreifen) beim Knesset (Parlament Israels). Allerdings legte der Finanzminister sein Veto gegen die Bereitstellung von Geldern zur Evakuierung von Bewohner*innen, aus den fast zerstörten Städten, ein. Die Städte befänden sich rechtlich nicht mehr in der Zone zur Grenze des Gazastreifens.

Die Angelegenheit hatte sich erst geklärt, nachdem sich der Bürgermeister von Aschkelon (einer anderen Stadt in der Nähe des Gazastreifens) im Knesset wütend an den Finanzminister richtete: „Seit sieben Jahren schreie ich laut: ‚Kibennimat!‘ (ein russisches Schimpfwort auf Hebräisch). Definieren Sie Aschkelon als Teil der Grenzzone des Gazastreifes! Evakuieren Sie alle, die keinen Zugang zu einem Schutzraum haben. Ich spreche vor allem von denen, die weder Geld für einen Schutzraum, noch für eine Evakuierung haben. Welche Antworten wollen Sie diese Menschen geben, außer zu beten, dass sie nicht sterben? …

Ashkelon ist zu einer Geisterstadt geworden, Geschäfte und Unternehmen sind geschlossen, Kriegsschäden belaufen sich auf Hunderte Millionen Schekel. Das Verteidigungsministerium gab grünes Licht für die Überweisung von Mitteln, aber das Finanzministerium legte Veto ein. Also erklären Sie mir, was stattdessen zu tun ist, wenn zur Evakuierung einer Stadt auf 300 Millionen Schekel verzichtet werden muss?“.

Letztendlich wurde die Evakuierung angeordnet: mehr als 135.000 Israelis aus dem Norden und Süden wurden aus den angegriffenen Gebieten evakuiert. Die meisten von ihnen wurden in Hotels untergebracht, die ohnehin leer stehen – es gibt heutzutage nur wenige, die in Israel Urlaub machen möchten.

Die Hotels werden vom Staat bezahlt – eine Unterkunft für Flüchtlinge ist kostenlos. Die meisten Hotels sind jedoch nicht für einen längeren Aufenthalt von Familien mit Kindern geeignet, da es in der Umgebung weder Schulen noch Kindergärten gibt. Und die Einrichtungen in unmittelbarer Nähe sind nicht in der Lage, so viele neue Schüler*innen und Kinder aufzunehmen. Stattdessen versuchen viele Flüchtlinge bei Verwandten oder Freunden unterzukommen, wo sie Hilfe erhalten können und wo die Kinder vorübergehend in einen Kindergarten oder eine Schule aufgenommen werden können. Diese temporäre Lage lässt vieles unbeantwortet. Wie wird es mit diesen Menschen weitergehen? Die Regierung hat für die Umsiedler bisher keine Lösungen vorgeschlagen.

Geschäft. „Wir sind auf uns allein gestellt mit dem Krieg.“

Pawel Popeljuchin ist 44 Jahre alt, seit 18 Jahren arbeitet er im israelischen Büro eines amerikanischen IT-Unternehmens – er tritt alle sechs Monate zwei bis drei Wochen zum Miluim an (sogenannter Reservedienst). Er kehrte im September von seinem letzten Miluim zurück und befand sich zwei Wochen nach Kriegsbeginn wieder in der Armee. Von 300 Mitarbeitern seines Unternehmens befinden sich derzeit etwa 15 im Kampfeinsatz. „In unserer Firma gibt es keine Probleme mit der Bezahlung von Reservisten. Unser Gehalt wird vollständig gezahlt, da die Hightech-Branche einen besonderen Wert hat. In Unternehmen meiner Mitkollegen*innen bezahlen Arbeitgeber Reservisten nur den Mindestlohn. Sie haben einfach nicht genug Geld drei Monate lang Gehalt zu überweisen, an diejenigen die nicht arbeiten. Davon drehen die Leute durch: nicht nur, dass sie seit drei Monaten nicht zu Hause sind, außer an wenigen Wochenenden, alle zwei bis drei Wochen, sie können nicht mal mehr ihre Familien versorgen. Die Nerven der Angehörigen liegen blank, Familien fangen an auseinanderzubrechen.“ 

Pavel Popelyukhin ist im zivilen Leben IT-Spezialist und im militärischen Leben LKW-Fahrer

Normalerweise steigt die Anzahl an Unternehmen in Israel, aber in diesem Jahr wird es um 20.000 schrumpfen. In den ersten Wochen des Krieges waren in Einkaufszentren fast alle Cafés und Geschäfte geschlossen. Einige haben bis heute nicht mehr geöffnet.

Ekaterina Biryukova und ihr Ehemann Alexey arbeiten im Bereich Landscape Design – sie verschönern Grundstücke, Balkone, etc.. Nach Kriegsbeginn haben sie keine neuen Kunden mehr. Es bleiben nur die alten Abonnenten, die für die Pflege bereits gestalteter Flächen regelmäßig zahlen. Mit diesem Einkommen kann die Familie jedoch nicht einmal die Hypothek bezahlen, geschweige denn den üblichen Lebensstandard aufrechterhalten:„Jetzt stehe ich vor der Wahl: zum Friseur gehen oder 200 Schekel in die Hypothek einzahlen. In der gleichen Situation befinden sich meine Freunde, die Künstler*innen und Designer*innen sind. Allerdings unterstützen uns unsere Kunden sehr: zum Beispiel haben wir Angst, in die zentralen Regionen des Landes zu reisen – in Gebiete, die oft beschossen werden. Aber die Kunden aus diesen Gebieten zahlen trotzdem für das Abonnement. All die Menschen versuchen sich gegenseitig zu helfen.“

Um Kolleg*innen zu helfen ihre Verluste zu minimieren, hat der bekannte israelische Inhaber des Unternehmens Yoffi Arkadiy Mayofis die Kampagne „Unterstütze Deine Eigenen“ ins Leben gerufen: Bei dieser Aktion veröffentlichte er kostenlos Werbung für verschiedene Unternehmen auf seinen Konten. Dies verhalf Vielen, in den ersten Monaten des Krieges nicht bankrott zu gehen.

Arkady Mayofis unterstützte kleine Unternehmen in schwierigen Zeiten mit Werbung

Bis Oktober 2023 war Marina Badashina als Nagelmeisterin in Haifa derart bekannt, dass sie keine Neukunden mehr annehmen konnte. Man musste sich einen Termin bei ihr Monate im Voraus sichern. Doch bereits im ersten Monat des Krieges verlor sie die Hälfte ihrer Kunden: „Zehntausende Menschen haben ihre Jobs verloren oder sind in unbezahlten Urlaub gegangen. Maniküre ist keine Sache der Notwendigkeit, wie Essen oder Medizin. Wir arbeiten für die Schönheit und Freude im Leben. Aber von Freude ist nichts geblieben, stattdessen bleiben Kindergärten und Wohnungen, die bezahlt werden müssen“.

Marina arbeitet ehrenamtlich in einem Krankenhaus in Kinderonkologie-Abteilung „Rambam“ und bietet gleichzeitig kostenlose medizinischen Pediküre für Soldaten an (Probleme wie Verletzungen, Schwielen, eingewachsene Zehennägel, Pilzinfektionen). Das alles bringt ihr kein Geld ein. „Meine Kollegen stecken in einer ähnlichen Situation. Neben mir arbeitet ein Meister, der seit 40 Jahren seine Stammkunden pflegt. Ich habe ihn noch nie so lange untätig sitzen sehen. Gegenüber meines Salons befindet sich das Studio einer der besten Haarfärberinnen Haifas. All ihre Kunden sind verschwunden. Sie versuchte sie mit Rabatten zu locken, mit vielen Reels und Werbung in sozialen Netzwerken. Aber das ist alles sinnlos. Wenn Krieg ist, geht man sich nicht die Haare färben. Es ist unwichtig. Meine Bekannten, die hier Kleidung aus Italien und der Türkei verkaufen, befinden sich in einer noch schwierigeren Lage. Die gesamte Logistik ist lahmgelegt, sodass die Waren nicht nach Israel geliefern werden können. Und der Verkauf der verbliebenen Ware deckt nicht einmal die Mietkosten des Ladens, die seit Kriegsbeginn entstanden sind. Deshalb schließen die meisten Geschäfte bereits nach zwei Monaten.“

Man geht davon aus, dass Israelis an Kriege gewöhnt sind. Doch Marina, die vor 13 Jahren aus Kiew (Kyiv) nach Israel kam, erzählt, dass sie eine solch fürchterliche Erfahrung zum ersten Mal gemacht hat: „Klar, wir erkennen Flugzeuge, Sirenen, fallende Raketen. Wir können am Klang unterscheiden, was sich am Himmel abspielt. Dennoch, vorher haben wir uns mental immer beschützt gefühlt. Wir wussten, dass es einen Staat und einen Feind gibt – und das der Staat uns beschützen wird. Und jetzt sitze ich hier und frage mich: Wie kann ich selbst für Sicherheit sorgen? Wir alle wissen, dass Terroristen in all die Regionen eingedrungen sind und ich spüre, dass sie im Land sind – ich verlasse mich auf niemanden mehr. Ich habe meiner Mutter und mir Pfefferspray gekauft. Weißen Pick-ups versuche ich aus dem Weg zu gehen – in diesen Autos sind die Terroristen aus Gaza eingedrungen. Auch in meinem Büro habe ich einige Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Ich bin bereit, mich jederzeit zu verteidigen. Wir sind auf uns allein gestellt mit dem Krieg. Und niemand wird Israel beschützen, nur wir werden es tun.“

Laut dem Nationalen Institut für Gesundheitspolitik ist bei den Israelis seit dem 7. Oktober eine Zunahme der Angststörungen von 50 % zu verzeichnen, Fälle von akuter Belastung um 900 %.

Aber nicht alle bleiben bei dem ganzen Stress untätig. Ein Teil der Veteranen-Reservisten, der nicht mit den neuen Panzern kämpfen kann, hat alte ausgemusterte Panzer restauriert. Die Veteranen gründeten ihre eigene Einheit mit dem Namen „Of ha-Khol“ (Phoenix) und zogen an die Front.

„Nach dem 7. Oktober geschah ein Wunder“, meint Pavel Popelyukhin – seine Spezialisierung innerhalb der Armee ist der Transport von schweren Gerät. „Juden, Beduinen, Drusen, israelische Araber, Muslime und Christen versammelten sich und verteidigten sich gemeinsam, noch bevor Armee und Regierung etwas bemerkten. Die Menschen um mich herum ließen alles liegen, um an der Evakuierung und den Gefechten mitzuwirken. Für uns war es erstaunlich, wie viele Israelis, die das Land lange verlassen hatten, zurückgekehrt sind. Einige gingen unmittelbar an die Front. Die Tragödie (am 7. Oktober) einte das ganze Land und veränderte unsere Sichtweise auf das Leben hier in Israel. Wir dienen schließlich für unser Land, und können nicht nachvollziehen, wie der 7. Oktober überhaupt möglich wurde, wie kam es dazu? … Israel ist von sich selbst überrascht.“

Freiwillige. „Wir werden den Krieg auf jeden Fall gewinnen.“

Erhebliche Kriegsschäden haben ländliche Gebiete im Norden und Süden Israels davongetragen: insbesondere, wo sich Farmen befinden, auf denen Tiere gezüchtet werden oder Obst und Gemüse angebaut wird. Vorher gab es dort viele Arbeiter aus Palästina, Thailand und weiteren Ländern. Palästinenser wurden aus Israel ausgewiesen, viele Thailänder verließen das Land aus eigenem Antrieb. Daher baten die Bauern in den ersten Wochen des Krieges um Hilfe, sie wandten sich an Freiwillige aus dem zentralen Teil des Landes. Seit drei Monaten reisen nun Ingenieure, Lehrkräfte, Musiker*innen, Fahrer*innen, Rentner*innen, pensionierte Generäle und Minister am Schabbat an – anstatt sich auszuruhen, fahren sie in die südlichen und nördlichen Regionen um den Bauern zu helfen.

Der berühmte amerikanische Biologe Eugene Koonin kommt regelmäßig nach Israel, um seine Mutter zu besuchen. Für alle Fachleute ist das ein wichtiges Ereignis – er wird zu Seminaren eingeladen, man ist gespannt auf seine Vorlesungen.

Der führende Forscher am National Center for Biotechnology Information der National Library of Medicine der US National Institutes of Health Evgeniy Kunin (rechts) hilft israelischen Bauern

Diesmal versammelte er sich nach dem Vortrag am Samstag mit anderen Universitätsmitarbeitern, um Tomaten zu pflücken: „Auf den ersten Blick erinnert es an die Kartoffelernten in der UdSSR. Doch damals wurde es durch das das miserable sowjetische Management in der Landwirtschaft verursacht, in Israel ist es nun eine freiwillige zivilgesellschaftliche Geste mit einer absoluten Notwendigkeit. Wenn die Ernte verloren geht, haben die Menschen nun mal nichts mehr zu essen.“

Ebenfalls dort, in den Gewächshäusern, kann man regelmäßig den ehemaligen Verteidigungsminister Moshe Bogie Ya’alon antreffen, aber auch Schauspieler*innen und viele weitere berühmte Persönlichkeiten Israels.

Neue und alte Rückkehrer über landwirtschaftliche Arbeit: Biologe Alexander Markov, Ingenieur Yan Rybak, Biologiestudent Fjodor Voitinsky, Biologin Alexandra Goryashko, Musiklehrerin Yana Yut

Die Logistik und die Beförderung von Menschen zu den jeweiligen Farmen übernahmen Freiwilligenorganisationen, deren Rolle heutzutage überaus wichtig ist. 

Israel hatte zuvor keinerlei Erfahrung mit sofortiger Mobilisierung, insbesondere mit einer solch großen Anzahl von Reservisten. Daher wurden Soldaten innerhalb weniger Tage oftmals von Freiwilligen mit Kleidung und Lebensmitteln beliefert.

Jan Rybak, Ingenieur eines Projektunternehmens, nahm sich sofort nach dem 7. Oktober Urlaub und startete mit Lieferungen von Hilfsgütern an Soldat*innen. „Auf Anfrage habe ich alles Mögliche transportiert, angefangen mit T-Shirts und Unterhosen bis hin zur militärischen Ausrüstung. Ich belieferte mit Allem, was Verwandte per DHL aus dem Ausland an die Soldaten schicken wollten – Medikamente, Kleidung. Dann begann ich mit dem Freiwilligenzentrum zusammenzuarbeiten, das von der Partei ‚Unser Haus Israel‘ in Haifa gegründet wurde. Dies ist die einzige russische Partei in Israel. Sie sammeln Spenden und kaufen ein, was Kampftruppen benötigen.“

Zuerst fuhr Jan nur in den Süden, aber nach einer Woche begannen die Kämpfe auch im Norden an der Grenze zum Libanon. „Dort habe ich wirklich gespürt, wie nah die Front ist. Genau an diesem Tag hatte die ‚Hisbollah‘ auf bewohnte Gebiete mit Panzerabwehrraketen geschossen, am Morgen wurde eine Person getötet. Als ich ankam, wollten mich die Soldaten erstmal nicht durchlassen. Sie berieten sich lange, telefonierten, doch schließlich ließen sich mich durchfahren. Sie sagten: ‚Fahr, aber halte nirgendwo an‘. Ich fuhr zu dem Ort, an dem ich die mitgebrachten Lebensmittel an die Soldaten übergeben sollte, aber auch dort hieß es: ‚Bleib hier nicht stehen dieser Ort wird von jenem Hügel aus beschossen‘. Als ich zurückfahren wollte, baten sie mich, einen Soldaten mitzunehmen, dem Urlaub gewährt wurde. Während ich auf ihn wartete, begannen die Explosionen – alle eilten in den Schutzraum. Kurz gesagt, heute ist es beängstigender in den Norden zu fahren als in den Süden.“

Jan lebt seit 1991 in Israel und erinnert sich an zahlreiche Konflikte mit Gaza, der Hamas und beim Zweiten Libanonkrieg. Auf die Frage, ob Freiwillige immer so stark in die Versorgung von Reservisten involviert waren, antwortet er entschieden: „Nein. Aber es gab nie einen Krieg wie diesen, nicht in meiner Erinnerung und überhaupt nicht in der Geschichte Israels seit dem Unabhängigkeitskrieg. Was unterscheidet diesen Krieg von allen vorherigen? Der Jom-Kippur-Krieg gilt als einer der schlimmsten Kriege in Israel, bei dem zweieinhalbtausend Israelis starben. Aber das waren Soldaten, es gab kaum zivile Verluste. Wir hatten nie eine Situation, in der mehr als 250 Menschen als Geiseln genommen wurden. Die genaue Anzahl ist bis heute unbekannt: es gibt Menschen, die verschwunden sind, bei denen unklar ist, ob sie nun in Geiselhaft oder gestorben sind. Die Morde wurden mit einer solchen Unmenschlichkeit begangen, dass bis heute nicht alle gefundenen Überreste identifiziert sind. In dieser Hinsicht war der Jom-Kippur-Krieg zwar für Israel schwer und traumatisch, aber niemand dachte über die Existenz Israels nach. Der Krieg, der nun stattfindet, ist der zweite Krieg nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948, bei dem das Land auf dem Spiel steht: In Israel herrscht ein Krieg ums Überleben.

Wenn Israel diesen Krieg verliert, wird dies für uns der Beginn eines schmerzhaften Endes sein, das sich über zwei, drei, vielleicht vier Jahrzehnte erstrecken wird. Aber es wird genau den Anfang vom Ende bedeuten. Tatsache ist, dass die Araber schon lange nicht mehr in Israel einfallen wollen. Sie wissen ganz genau: keine arabische Miliz, selbst nicht die Hisbollah, wäre in der Lage, Israel zu besetzen. Sie versuchen uns stattdessen zu schaden und das Leben der Menschen unerträglich zu machen. Sie rechnen damit, dass der Israelis irgendwann sagen: ‚Wie lange wollen wir das durchmachen? Warum muss ich mir das antun? Das nimmt kein Ende. Ich möchte, dass meine Kinder in Frieden leben, ohne von Raketen bedroht zu werden.’ Seit 2005, dem vollständigen Rückzug Israels aus dem Gazastreifen, ist eine ganze Generation unter ständigem Raketenbeschuss im Süden aufgewachsen. Bei einem Beschuss bleiben stets 20 Sekunden, um zum Schutzraum zu gelangen. Und genau dafür wurde Israel doch geschaffen, oder? Israel wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum Zufluchtsort: die Juden würden eine Heimat haben, in dem sich der Holocaust niemals wiederholen könnte, niemand könnte Juden ungestraft töten. Das, was wir in den letzten 20 Jahren in Israel erlebten, entspricht nicht dem, wofür dieses Land geschaffen wurde. Nicht dafür, dass sich Juden im eigenen Land in Schutzräumen verstecken müssen. Jetzt hat sich die größte Tragödie seit dem Holocaust ereignet. Daher ist die Reaktionskraft proportional zur Schlagkraft: das Maß an Solidarität ist unvergleichlich mit allem, was mir in Erinnerung ist. Daher ist der Geist der Hilfsbereitschaft inzwischen allgegenwärtig.“

Freiwilliger Jan Rybak

„Den Krieg werden wir auf jeden Fall gewinnen“, verspricht Arkadi Milman, der Leiter des Programms zur Erforschung Russlands am Institut für nationale Sicherheit an der Universität in Tel Aviv. „Es ist unklar, wann es passiert. Wie man zu sagen pflegt: wie und wann ich einen Krieg beginne – weiß ich – wie und wann ich ihn beende – weiß ich nicht. Dann beginnt der schrecklichste Kampf, der Krieg stellt Israel vor die Frage: Sein oder Nichtsein? Seit dem 7. Oktober ist die Gesellschaft mehr als gespalten, es herrscht eine enorme Unzufriedenheit bei den Menschen – die alle unterschiedliche Positionen vertreten, ob im Staatsapparat oder in der Armee. Wenn Israel überleben will, muss es um seine Zukunft kämpfen. Entweder werden wir wie im Mittelalter leben, wie viele unserer Nachbarn oder wir entscheiden uns als Staat in der höchsten Liga zu sein. Eines kann ich gewiss bestätigen: ein Israel vor dem 7. Oktober und ein Israel nach dem 7. Oktober werden zwei verschiedene Länder sein.“

Olga Orlova, Chefredakteurin, T-invariant

  9.01.2024